Krimkrieg 1853-1856

"Das zerstörte Pompeji befindet sich in einem guten Zustand verglichen mit Sewastopol", notierte Mark Twain, als er bei seiner Reise auf die Krim 1865 den Hauptschauplatz der Kampfhandlungen besuchte.
349 Tage hatten die verbündeten Truppen der Franzosen, Engländer und Türken Sewastopol belagert. Seit dem Frühjahr 1855 wurden sie durch ein 15.000 Mann starkes Korp des Königreich Piemont-Sardinien verstärkt, bevor sie am 9. September 1855 den für Rußland wichtigsten Flottenstützpunkt am Schwarzen Meer einnehmen konnten.

Der Krimkrieg von 1853-56 stellte in mehrfacher Hinsicht ein Zäsur dar. Er veränderte die politische Landkarte Europas und beendete die dominierende Rolle, die Rußland nach dem Ende der napoleonischen Kriege auf dem Kontinent gespielt hatte. Es war der erste Stellungskrieg der Moderne, in dem materielle Überlegenheit, vor allem der massierte Einsatz von Artillerie, entscheidend für den Sieg waren. Und er wurde Objekt einer neuen Form der Kriegsberichterstattung. Die TIMES entsandte William Howard Russel als Korrespondenten, der sehr zum Ärger mancher englischer Offiziere ungeschminkt berichtete was er sah und militärische Inkompetenz einem breiten Publikum bekanntmachte. Mit Roger Fenton kam ein halbes Jahr nach Beginn der Belagerung von Sewastopol der erste Kriegsphotograph auf die Krim.

Vordergründig entzündete sich der Krimkrieg an Forderungen Rußlands, seine Rolle als Schutzpatron der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich auszudehnen. Zar Nikolaus I. reagierte auf eine Initiative des französischen Gesandten in Konstantinopel, der auf Anweisung von Louis Napoleon, mit stärkerem Nachdruck die Interessen der katholischen Gemeinden in Palästina vertreten sollte. Es herrschte ein ständiger Streit zwischen den katholischen und orthodoxen Gemeinden in Palästina über die Kontrolle der christlichen Stätten. Louis Napoleon, ein Neffe Napoleon I., war 1848 zum Präsidenten gewählt worden und hatte sich im Dezember 1851 in einem Staatsstreich zum neuen französischen Kaiser Napoleon III. ausrufen lassen. Sich zum Schutzherren katholischer Interessen aufzuspielen diente in erster Linie dazu, innenpolitisch weitere Unterstützung zu erhalten.

Das Russische Reich zu einer Seemacht zu entwickeln, war seit Peter dem Großen eines der wichtigsten Ziele russischer Politik. Mit dem Kraftakt der Gründung von St. Petersburg ab 1703 wurde ein wichtiger Grundstock gelegt, doch waren die im 18. Jh verfügbaren Häfen an der Ostsee und im Nordmeer zu lange durch Eisbildung im Winter blockiert. Die Stoßrichtung russischer Expansion verlagerte sich Richtung Süden, zum Schwarzen Meer hin. Nach mehren Kriegen gegen das Osmanische Reich, gelang es russischen Truppen die nördliche Küste und die Halbinsel Krim zu erobern, die 1783 von Katharina der Großen endgültig annektiert wurde.

Die Bucht von Sewastopol und ihre Nebenbucht, die Südbucht, bilden einen idealen Naturhafen. Dort einen Kriegshafen anzulegen war naheliegend, und in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Sewastopol zum modernsten Flottenstützpunkt seiner Zeit ausgebaut. Für die russische Marine gab es aber immer noch ein strategisches Problem, das den freien Zugang zu den Weltmeeren behinderte, die Flaschenhälse Bosporus und Dardanellen. Schon Alexander I. bezeichnete den Bosporus "als Schlüssel zu seinem Haus".

Nikolaus I. instrumentalisierte die Frage über den Schutz der orthodoxen Christen, um über diesen Schlüsel die Kontrolle zu erhalten. Im Februar 1853 erreichte Fürst Menschikow als Sonderbeauftragter des Zaren Konstantinopel mit dem Ziel, dem Sultan einen Staatsvertrag aufzunötigen, der Rußland Eingriffe in die Souveränität des Osmanischen Reiches ermöglicht hätte.
Für den Zaren war es nur eine Frage der Zeit, bis der "kranke Mann am Bosporus" seine Existenzberechtigung verlieren sollte. Nikolaus I. hatte schon in der Vergangenheit versucht, die "Orientalische Frage" in Abstimmung mit England und Österreich dahingehend zu lösen, das Osmanische Reich in Interessensphären aufzuteilen.

England war jedoch an dem Fortbestand des Osmanischen Reiches interessiert, zum einen hatte es sich zu einem wichtigen Absatzmarkt der britischen Industrie entwickelt, zum anderen konnte es so eine Pufferfunktion an der Flanke des wichtigen Verkehrsweges nach Indien erfüllen.
Der englische Gesandte in Konstantinopel, Stratford Canning, bestärkte die osmanischen Regierung zu einer ablehnden Haltung gegenüber den russischen Forderungen.
Nach Ablauf eines Ultimatums reiste Fürst Menschikow am 21. Mai 1853 ergebnislos ab, die Phase der militärischen Eskalation begann.

Um den Druck auf Konstantinopel zu erhöhen ließ Nikolaus I. im Juli 1853 80.000 Mann in die unter osmanischer Herrschaft stehenden Donaufürstentümer Moldau und Walachei einmarschieren. England und Frankreich entsandten Flotteneinheiten in die Nähe der Dardanellen. Durch diese Unterstützung ermutigt erklärte die Türkei am 4. Oktober 1853 Rußland den Krieg. Daraufhin überschritten russische Truppen die Donau und begannen mit der Belagerung der wichtigen Festung Silistra.

Eine diplomatische Lösung war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht vom Tisch, die Ausweitung des Konfliktes war weder in russischem noch in englischem Interesse. Erst die Vernichtung eines türkischen Flottengeschwaders im Hafen von Sinope durch die russische Schwarzmeerflotte im November 1853 verschärfte die Lage. Innenpolitisch kippte in England die Stimmung und die Kriegsbefürworter gewannen die Oberhand. Es ging zunehmend darum, Russland als aggressive und autokratische Macht, die sich grundsätzlich liberalen Ideen entgegengestellt hatte, in die Schranken zu verweisen. Nikolaus I, "der Gendarm Europas", hatte wiederholt die Position Rußlands als zentrale Ordnungsmacht auf dem Kontinent genutzt, um konstitutionelle Bestrebungen zu verhindern.

Im März 1854 erklärten England und Frankreich Rußland den Krieg. Napoleon III. sah die Chance, die Niederlage von 1815 auszubügeln und Frankreich wieder eine Vormachtstellung in Europa zu verschaffen. Die Allierten landeten im April 1854 bei Gallipoli und in Konstantinopel ein Expeditionskorp an, um einem möglichen russischen Vorstoß auf den Bosporus zu begegnen.

Im Juni 1854 brachen die russischen Truppen überraschend die Belagerung von Silistra ab und zogen sich über die Donau bis in die Moldau zurück. Die Möglichkeit einer allierten Landung im Hinterland und die zunehmende Orientierung Österreichs zu den Westmächten, das in Galizien 300.000 Mann zusammengezogen hatte, erschienen Nikolaus I. als zu große Risiken für die Balkanarmee. Damit waren seine Bemühungen gescheitert und Rußland geriet in die Defensive.
Obwohl Rußland im Sommer 1854 auch die Donaufürstentümer vollständig räumte und damit der ursprüngliche Kriegsgrund entfiel, waren die Westmächte nicht zu Friedensverhandlungen bereit. Ziel war nicht mehr die Wiederherstellung des Status quo, sondern die russischen Position im Schwarzen Meer nachhaltig zu schwächen. Damit mußte zwangsläufig die Einnahme und Zerstörung von Sewastopol zum Kriegsziel werden.

Am 14. September 1854 landeten 60.000 Mann französischer, englischer und türkischer Truppen in der Bucht von Ewpatorija. Bei ihrem Vorstoß auf Sewastopol schlugen sie am 20. September 1854 die russischen Truppen in einer chaotischen Schlacht an der Alma. Bei einem sofortigem Nachsetzen wäre Sewastopol, da es zur Landseite nur schwach befestigt war, wahrscheinlich im Handstreich genommen worden. Erst am 23. September stießen die Allierten nach. Ursache waren logistische Probleme aber vor allem Unklarheit über das weitere Vorgehen. Als die Meldung überbracht wurde, daß die russische Schwarzmeerflotte sich in der Einfahrt zur Sewastopoler Bucht selbst versenkt hätte, waren in den Augen der allierten Führung alle Optionen vom Tisch, mittels einer kombinierte Land- und Seeoperation einen schnellen Erfolg zu erzielen. Eine Belagerung schien unumgänglich und so fiel die Entscheidung, erst die noch auf Schiffen verstauten schweren Belagerungsgeschütze an Land zu bringen. Da das allierte Expeditionskorps zu schwach war um einen vollständigen Belagerungsring um Sewastopol zu legen, konzentrierte es sich auf den Südteil, die Dockanlagen und das Zentrum der Stadt.

In der Zwischenzeit wurde unter Leitung des Ingenieuroffiziers Eduard von Totleben um Sewastopol ein flexibles Verteidigungssystem aus Feldschanzen, Batteriestellungen und Schützengräben angelegt. Damit wurde eine schnelle Eroberung unmöglich. Mittels eine Pontonbrücke über die Sewastopoler Bucht konnten die russischen Verbände über den Nordteil eine Nachschubverbindung aufrechterhalten.

Die Kriegsführung hatte eine neue Dimension der Materialschlacht erreicht, in der es vor allem darauf ankam, genügend Truppen und Nachschub heranzuführen. In Dauerkanonaden sollten die Verteidiger mürbe geschossen werden. Leo Tolstoi, der als Freiwilliger in Sewastopol kämpfte, schrieb später: "Über ihren Köpfen wölbte sich der Sternenhimmel, über den unaufhörlich die feurigen Streifen der Granaten glitten."

Während der fast einjährigen Belagerung schlugen alle russischen Entsatzversuche fehl. Die Allierten konnten aber erst am 8. September 1855 unter ungeheuren Anstrengungen und Verlusten eine Schlüsselstellung, den Malachowhügel, einnehmen. Daraufhin räumten die Russen Sewastopol und sprengten ihre Stellungen.

Das allierte Korp bestand zuletzt aus 100.000 Franzosen und 35.000 Engländern, die im Gegensatz zu den Italienern und Türken die Hauptlast der Kämpfe trugen. Um eine schnellere Versorgung z u gewährleisten, hatten die Engländer sogar eine Feldeisenbahn von Ihrer Basis in Balaklawa zur Front gebaut.

Am Ende der Belagerung hatten 73.000 russische, 70.000 französische und 22.000 englische Soldaten ihr Leben verloren, davon 61.000 im Kampf. 104.000 fielen Krankheiten, Seuchen oder ihren Verwundungen zum Opfer.

Nikolaus I. war am 18. Februar 1855 gestorben, sein Nachfolger Alexander II. mußte im März 1856 in Paris Frieden schließen, obwohl den russischen Truppen im November 1855 mit der Eroberung der wichtigen türkischen Festung Kars im Südkaukasus noch ein militärischer Erfolg gelungen war. Das Schwarze Meer wurde neutralisiert, Rußland durfte keine Flotte und keine Festungen besitzen und mußte jeden Anspruch auf den Schutz der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich aufgeben. Es erhielt im Tausch gegen Kars Sewastopol zurück.

Als Ursache für die Niederlage wurde auch in Rußland die eigene Rückständigkeit gesehen, die verkrusteten Strukturen in Armee und Verwaltung, die gesellschaftliche Erstarrung unter Nikolaus I. Unter Alexander II. begann ein umfangreiches Reformwerk zur Modernisierung.

Sewastopol wurde in Rußland zu einem Symbol der Widerstandes und des Willens zur Selbstbehauptung. Der Vergleich mit Napoleons Einmarsch in Moskau 1812 wurde gezogen, das auch von den Russen selber in Brand gesteckt worden war, Rußland war aber letztendlich Sieger in diesem Konflikt geblieben.
Als sich die russischen Truppen am 9. September 1855 über die Schiffsbrücke zurückgezogen hatten, schrieb Tolstoi: "Fast jeder Soldat, der nach dem aufgegebenen Sewastopol zurückblickte, seufzte mit unsagbarer Bitterkeit im Herzen und ballte die Faust gegen den Feind."

Durch die einjährige Kanonade war Sewastopol fast vollständig zerstört. "Hier kann man in jede beliebige Richtung blicken, und das Auge trifft kaum auf etwas anderes als Zerstörung, Zerstörung, Zerstörung! Häuserruinen, zerbröckelte Mauern, zerfetzte und zerklüftete Hügel, Verwüstung überall...", (Mark Twain, 1865).

Literatur:
Akten zur Geschichte des Krimkrieges. Hrsg. von Winfried Baumgart. München, 1979-1988.

Tolstoi, Leo: Sewastopoler Erzählungen. Frankfurt/M, 1961.

Werth, German: Der Krimkrieg. Geburtsstunde der Weltmacht Russland. Frankfurt/M., Berlin 1992.